Meine Tochter war einige Monate alt, als ich mich entschied, zum ersten Mal eine Nacht von ihr wegzubleiben, um auf ein Musikfestival in der Wüste zu gehen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich kurz vor der Abfahrt Milch abgepumpt habe. Ich erinnere mich auch an das Festival, das Tanzen unter dem sternenklaren Himmel, die schnelle Rückfahrt bei Tagesanbruch, damit ich beim Erwachen des Babys wieder da war, um sie zu stillen.
Am Freitag, dem 6. Oktober, machte Celine Ben-David Nagar dieselbe Reise, die ich gemacht hatte. Sie ließ ihre sechs Monate alte Tochter Ellie zu Hause und erlaubte sich selbst, eine Nacht der Freiheit und des Tanzens zu verbringen. Ihr Mutterschaftsurlaub endete in dieser Woche, und sie wollte sich vor der Rückkehr zur Arbeit noch einmal gehen lassen.
Celine kam nie nach Hause. Ido, ihr Mann, hatte gerade noch Zeit, Textnachrichten mit ihr auszutauschen, als am frühen Samstagmorgen die ersten Sirenen heulten. Celine sagte, es gehe ihr gut, Soldaten seien unterwegs, um zu helfen. Dann hörte sie auf zu texten. Ido wurde vor Sorge wahnsinnig. Er verfolgte den Standort ihres Telefons und machte sich auf den Weg. Ein frischgebackener Vater, allein in einer Kriegszone, auf der Suche nach seiner Frau. Als er am angezeigten Ort des Telefons ankam, fand er Celines Auto. Leer. Ein paar Einschusslöcher. Ein wenig Blut.
Langsam wurde das Ausmaß des Horrors deutlich: Dutzende Terroristen in Pick-ups waren auf das Feld gefahren, wo das Festival stattfand. Sie stellten ihre Fahrzeuge im Kreis um die jungen Feiernden auf und eröffneten das Feuer auf sie mit großkalibrigen Maschinengewehren, die auf ihren Fahrzeugen montiert waren. Terroristen, die sich als israelische Polizisten tarnten, standen am Zufahrtsweg und signalisierten den Autos zum Anhalten. Wenn sie stoppten, erschossen die Terroristen die Fahrer, versteckten ihre Leichen in den Autos und warteten auf ihr nächstes Opfer. Einige der Feiernden versuchten zu fliehen. Einigen gelang die Flucht. Andere wurden entführt und über die nahe Grenze nach Gaza gebracht. Später am Tag wurden Hunderte Leichen auf dem Feld gefunden. Celine befand sich nicht darunter.
Ido ging nach Hause zu einem Babys, dessen Mutter nicht aufgefunden wurde. Israelische Mütter, die seine Geschichte hörten, brachten abgepumpte Milch für Ellie. Wenn Celine am Leben wäre, hofften wir, irgendwo da draußen im Gazastreifen gibt es eine Mutter, deren Körper weiterhin Milch für ein Baby in Israel produziert.
Ich hielt mich an diese Hoffnung, wie so viele andere hier in Israel, bis der Tag kam, an dem ich von der Arbeit im Krankenhaus nach Hause kam und die Nachricht hörte: Celines Leiche wurde gefunden.
Vielleicht ist dies der primitivste Abwehrmechanismus: Man hört von Celine Nagar und sagt sich, das kann nicht passieren. Es ist ein Horrorfilm. Etwas Fernes, Unwahrscheinliches. Man liest von Celine Nagar und scrollt weiter. Ich tue mein Bestes, diesem Mechanismus zu widerstehen: Bei über 1.400 Massakrierten am 7. Oktober versuche ich, täglich zehn Nachrufe zu lesen. Ich habe dieses seltsame Gefühl der Pflicht: die Namen zu kennen, die Gesichter anzusehen.
Die Gesichter, die Israel verfolgen, sind die der etwa 240 als Geiseln nach Gaza Verschleppten, darunter Kinder, Frauen und Ältere. Avigail Idan ist gerade mal drei Jahre alt. Am frühen Samstagmorgen wurde ihre Mutter Smadar direkt vor ihren Augen ermordet. Sie und ihr Vater Roee, ein Pressefotograf, wurden entführt und nach Gaza gebracht. Roee wurde angeschossen, aber Augenzeugen berichteten, dass er noch am Leben war, als man ihn mitnahm. Seine Leiche wurde später gefunden. Von Avigail fehlt seitdem jede Spur. Was geht wohl in dem Kopf eines dreijährigen Mädchens vor, das in Gaza entführt wurde? Was geht in den Köpfen ihrer beiden Brüder, sechs und neun Jahre alt, die sich im Schrank versteckten und sahen, wie ihre Eltern erschossen wurden und ihre Schwester mitgenommen wurde?
Die Israelis wurden Zeugen des Massakers in Echtzeit. Nachrichten von Zivilisten, die auf Kibbuzim entlang der südlichen Grenze eingekesselt waren, erreichten Freunde in Tel Aviv. Wir lasen ihre Hilferufe, bis sie aufhörten zu schreiben. Wir sahen sie in Hinrichtungsvideos, die von Hamas in sozialen Medien veröffentlicht wurden. Videos, vor denen uns gewarnt wurde, sie nicht anzusehen, aber wir taten es – wir sahen sie – weil wir sichergehen mussten, dass es sich nicht nur um ein Hirngespinst handelte. Dass die Enthauptungen, Vergewaltigungen, Folter – dass dieser Alptraum tatsächlich unsere Realität war.
Ich schreibe, damit diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten. Ich schreibe, damit niemand wagt, sie zu vergessen. Ich schreibe, weil es solche gibt, die sagen, die Geschichte sei “kompliziert” und “nuanciert”. Sie werden sich hinter Nuancen verstecken und es vermeiden, gegen Terrorismus eine klare und unmissverständliche Position zu beziehen.
Aber es gibt nichts Kompliziertes oder Nuanciertes daran, in das Haus einzudringen, in dem Tamar und Jonathan Siman Tov mit ihren drei kleinen Kindern lebten, und sie kaltblütig alle zu erschießen. Die israelische Besatzung Palästinas ist eine Ungerechtigkeit, die beendet werden muss, aber die Kleinkinder, die auf dem Kibbuz Nir Oz massakriert wurden, hatten nichts mit der Besatzung zu tun. Wer aus Sorge um die Menschenrechte die Besatzung ablehnt, muss dieselbe Sorge für die Menschenrechte israelischer Frauen, Kinder und älterer Menschen zeigen, die aus ihren Betten gezerrt und nach Gaza verschleppt wurden.
In den Tagen seit dem Massaker wurde das Personal des Shalvata Mental Health Center, wo ich arbeite, damit beauftragt, Familien zu unterstützen, die aus der Katastrophe gerettet wurden. Wir erhielten schriftliche Richtlinien von einer Vorgesetzten: Vergessen Sie alles, was Sie über die Behandlung von Traumata gelernt haben, sagte sie uns. Sie können diesen Menschen nicht sagen: “Hier sind Sie jetzt in Sicherheit.” Ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Väter – ihre kostbarsten Angehörigen wurden von Menschen entführt, die eine Grausamkeit jenseits jeder Vorstellungskraft gezeigt haben. Nirgendwo ist man sicher, bis wir sie nach Hause gebracht haben.
Das Schlimmste des Traumas tragen die Überlebenden und diejenigen, die geliebte Menschen bei diesem Angriff verloren haben, aber die israelische Gesellschaft insgesamt wird nie mehr dieselbe sein. In den Tagen nach dem Angriff sah Tel Aviv aus wie eine Geisterstadt. Die Menschen hatten Angst, sich zu weit von Schutzräumen und sicheren Räumen zu entfernen und zogen es vor, drinnen zu bleiben. Patienten baten darum, ob wir uns statt in der Praxis nicht lieber über Zoom treffen könnten: Sie hatten Angst, das Haus zu verlassen. So sieht der Zusammenbruch aus. Der jüdische Staat wurde nach dem Holocaust gegründet, um sicherzustellen, dass Juden nie wieder eine verfolgte Minderheit sein würden, und jetzt hat Israel das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust erlebt.
Menschen, die mit den Überlebenden des Massakers arbeiten, berichten von sekundären Traumata – man hört ihre Geschichten und schläft in den folgenden Nächten nicht. Angesichts solcher Gräueltaten müssen wir unser Vertrauen in die Menschheit wiederherstellen. Und so erinnere ich mich immer wieder an die Frauen, die Milch für ein Baby abgepumpt haben, das sie nie getroffen haben. Ich erinnere mich an die Familien, die ihre Häuser für die Überlebenden geöffnet haben. Und ich erinnere mich daran, dass nicht alle Palästinenser Hamas unterstützen. Und dass wir irgendwann mit den Zivilisten auf der anderen Seite versöhnen müssen.
Viele der auf dem Kibbuz Ermordeten waren Gegner der rechtsgerichteten Regierung Netanjahus und aktiv in der Massenprotestbewegung der vergangenen neun Monate. Es war bürgerlicher Protest in bester Form – voller Energie, voller Hoffnung auf Veränderung. Aber die Gräueltaten, die Hamas begangen hat, haben diesem Protestzug ein Ende gesetzt. Bis zum Schwarzen Samstag fürchteten sich die Demonstranten vor der Zukunft unserer Demokratie; nun fürchten sie um das Leben ihrer Kinder.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Jessica Cohen